Priv.-Doz. Dr. Christian Geminn
75 Jahre Grundgesetz – Was hat die Internetsuche mit den Grundrechten zu tun, Christian Geminn?
Am 23. Mai wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Ein Grund zu feiern – und eine willkommene Gelegenheit für ein Gespräch mit PriDI-Projektleiter Dr. Christian Geminn über eine Erfolgsgeschichte, Grundrechte und die Internetsuche.
Der Jurist Dr. Christian Geminn ist Privatdozent an der Universität Kassel, Geschäftsführer der Projektgruppe Provet und leitet das vom BMBF geförderte Projekt PriDI – Privatheitsfördernde digitale Infrastrukturen.
Das Grundgesetz wird 75. Ein Grund zum Feiern?
Ja, absolut. Das Grundgesetz wurde ja 1949 ursprünglich als Provisorium angelegt, deshalb wurde der Begriff „Verfassung“ bewusst vermieden. Eigentlich sollte das Grundgesetz schon nach kurzer Zeit abgelöst werden – sobald Deutschland seine Einheit und Freiheit zurückerlangt hätte.
Dazu kam es aber nicht. Durch den Kalten Krieg war die Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt, und als 1989 dann die Mauer fiel, erschien es wenig sinnvoll, das Grundgesetz abzulösen. Es hatte sich in den ersten vierzig Jahren seines Bestehens bewährt.
Das ist der mit großem Bedacht erfolgten Arbeit der Mütter und Väter des Grundgesetzes zu verdanken, aber auch dem Bundesverfassungsgericht als Hüterin des Grundgesetzes und der ungebrochen hohen gesellschaftlichen Akzeptanz des Grundgesetzes.
Ist es denn auch für die Zukunft gerüstet?
Das deutsche Grundgesetz ist ja ein echter Exportschlager.Ich denke schon. Das Grundgesetz war schließlich in den vergangenen 75 Jahren bereits mit vielen Krisen konfrontiert. Auch der gesellschaftliche Wandel hat das Grundgesetz immer wieder auf die Probe gestellt. All diese Herausforderungen hat es mit großem Erfolg gemeistert. Es hat sich als biegsam und anpassungsfähig erwiesen, ist gleichzeitig aber auch widerstandsfähig.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben uns mit dem Grundgesetz den Auftrag erteilt, stets verantwortungsvoll zu handeln und dabei die Würde des Menschen als einen Leitstern zu verwenden. Das ist eine große Aufgabe, und wir müssen uns ihre Bedeutung und ihr Gewicht immer wieder bewusst machen. Die Feierlichkeiten zum halbrunden Geburtstag des Grundgesetzes in diesem Jahr sind ein willkommener Anlass, um das Grundgesetz als einen historischen Erfolg zu feiern. Zugleich ist das Jubiläum aber auch Anlass zur Mahnung. So birgt die digitale Technik, die inzwischen alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt, neue Risiken für die Grundrechte, für den Rechtsstaat und für die Demokratie.
Wie sieht es denn im Bereich der Internetsuche aus? Wie steht es um die Konformität von Suchmaschinen mit den Grundrechten?
Dazu muss man zunächst wissen, dass die Grundrechte direkt nur den Staat selbst binden. Auf Privatpersonen und Unternehmen wirken sie allerdings indirekt. Zunehmend setzt sich die Auffassung durch, dass besonders große Unternehmen, die eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen, in ähnlicher Weise an die Grundrechte gebunden sein sollten wie der Staat. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits festgestellt, dass auch Organisationen wie ein Fußballverein oder ein Flughafenbetreiber besondere Pflichten aus dem Grundgesetz haben.
Nimmt man das ernst und denkt es konsequent zu Ende, so ist gerade der Inhaber eines Quasi-Monopols, und das haben wir im Bereich der Internetsuche, in die Pflicht zu nehmen. Er muss seine Gewinninteressen bis zu einem gewissen Punkt zurückstellen und in besonderem Maße Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung, Handlungsfreiheit und weitere Grundrechte der Nutzenden sowie auch negative Effekte auf die Gesellschaft insgesamt berücksichtigen. Für solche Anbieter und ihre machtvolle Stellung wird nicht umsonst inzwischen der Begriff des „Torwächters“ verwendet. Das finde ich sehr passend.
Die Grundrechte aus den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes werden allerdings in der Praxis im Kontext digitaler Technik noch nicht ausreichend berücksichtigt. Da ist noch viel Luft nach oben.
Was macht die Umsetzung der Grundrechte im Digitalen denn so schwierig?
Wie alle digitale Technik ist auch die Internetsuche denkbar ambivalent. Einerseits stärkt ihr bloßes Vorhandensein die Grundrechte, da sie den Menschen neue Möglichkeiten eröffnet und so die Verwirklichung der Grundrechte unterstützt. Sie kann aber auch ein Einfallstor sein für Überwachung, Diskriminierung und Manipulation.
Die Internetsuche ist ein komplexes System mit verschiedenen, oft gegensätzlichen Interessen. Diese unterschiedlichen Interessen müssen gegeneinander abgewogen werden: Auf der einen Seite stehen vor allem Gewinninteressen, besonders das Interesse an personalisierter und damit effektiverer Werbung und dem Erstellen von Nutzerprofilen, um diese Werbung gezielt anzeigen zu können. Auf der anderen Seite stehen die Interessen der Nutzenden, die möchten, dass ihre Privatsphäre gewahrt bleibt. Sie wollen, dass ihre Aktivitäten online genauso wenig nachverfolgt werden wie in der Offline-Welt.
Hier müssen wir effektiv regulieren und die Grundrechte als Maßstab setzen – oder eben die großen Digitaldienste besonders an die Grundrechte binden. Andernfalls nehmen die Anbieter diese Interessensabwägungen selbst vor und machen dabei in der Regel ihre Eigeninteressen zum leitenden Maßstab. Die Grundrechte fordern aber ein Verhalten, das sowohl das Wohl des Einzelnen als auch der gesamten Gesellschaft berücksichtigt.
Inwiefern ist das Grundgesetz für Suchmaschinen relevant? Welche Artikel sind maßgeblich?
Eine wichtige Rolle spielt meines Erachtens das sogenannte Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Das leitet sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ab, insbesondere dem Schutz der Privatsphäre. Außerdem Artikel 87f Absatz 1 des Grundgesetzes. Nach diesem Artikel muss der Bund im Bereich der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen gewährleisten, dazu gehört etwa auch der Internetzugang. Aus diesen beiden Vorgaben kann man bei weitem Verständnis eine staatliche Verantwortung für die digitale Infrastruktur ableiten. Das bedeutet, dass digitale Dienstleistungen nicht nur auf funktionaler Ebene angemessen und ausreichend angeboten werden müssen, sondern auch die Grundrechte fördern sollen – das gilt auch und gerade für die Internetsuche.
Damit wird anerkannt, dass sich aus dem Grundgesetz staatliche Schutzpflichten ergeben. Zwar soll es ausreichen, wenn der Staat lediglich irgendeine Maßnahme zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Dritten ergreift, die nicht völlig unzulänglich ist; man kann aber durchaus kritisch fragen, ob der Staat nicht mehr tun sollte, um die Grundrechte im digitalen Raum zu schützen. Diese staatlichen Schutzpflichten können insofern auch als Schutzauftrag verstanden werden.
Eine weitere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Ganz zentral ist hier eine Feststellung, die das Bundesverfassungsgericht bereits vor über 40 Jahren getroffen hat; nämlich, dass es aufgrund des technischen Fortschritts kein „belangloses Datum“ mehr gibt. Damit wird das Risiko anerkannt, dass jede personenbezogene Information in einer für den Einzelnen nachteiligen Weise verwendet werden kann. Selbst wenn das vielleicht erst in der Zukunft und im Zusammenspiel mit weiteren Informationen geschieht.
Projekt PriDI will ja die Internetsuche an den Grundrechten ausrichten. Warum ist sie aktuell nicht grundrechtskonform?
Ich denke, das Hauptproblem ist, dass es keine wirklich gleichwertigen Alternativen zu Google Search gibt. Ein wesentlicher Grund dabei ist, dass man für den Betrieb einer Suchmaschine einen umfassenden Webindex braucht. So einen großen Index haben von den westlichen Anbietern nur Google und Microsoft, weil seine Erstellung sehr aufwändig und kostspielig ist. Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung setzen aber Handlungsalternativen voraus.
Allerdings ist der Webindex natürlich nicht der einzige Faktor, sonst hätte Microsofts Suchdienst Bing einen größeren Marktanteil. Deshalb müssen auch andere Faktoren wie die Akzeptanz der Nutzenden betrachtet werden.
Hinzu kommt der Datenschatz, der aus der lückenlosen Auswertung des Suchverhaltens der einzelnen Nutzenden entsteht – und die damit verbundenen Missbrauchsrisiken. Das Smartphone verrät, wo eine Person sich über den Tag hinweg aufgehalten hat, welche Websites besucht wurden – und noch vieles mehr. Die ins Suchfeld einer Suchmaschine eingegebenen Begriffe geben sogar Einblick in die Gedanken, in die Hoffnungen, Sorgen und Wünsche jedes einzelnen Nutzenden. Aus grundrechtlicher Sicht gehen damit hohe Anforderungen an den Umgang mit diesen Informationen einher. Denn Privatsphäre und Intimsphäre des Einzelnen sind besonders geschützt.
Was ist aus deiner Sicht nötig, um die Internetsuche grundrechtskonform zu gestalten?
Zunächst müssen wir verstehen, welche Vorgaben die Grundrechte für diesen Bereich enthalten. Zudem sind die Grundrechte abstrakt formuliert und müssen auf die Internetsuche hin konkretisiert werden. Dabei müssen auch widerstreitende Rechte in Einklang gebracht werden, denn oft enthalten einzelne Grundrechte gegenläufige Rechte. Schließlich können sich nicht nur die Nutzenden eines digitalen Dienstes auf die Grundrechte berufen. Auch die Betreiber der digitalen Dienste wie Suchmaschinen können sich auf diese Rechte beziehen – vor allem auf die in den Artikeln 12 und 14 des Grundgesetzes enthaltene Berufsfreiheit und Eigentumsfreiheit. Dieses Spannungsfeld entgegenstehender Rechte muss aufgelöst werden.
Und was trägt PriDI dazu bei?
Mit unserem Forschungsprojekt PriDI möchte wir sogenannte Anforderungs- und Entwurfsmuster entwickeln. Mit diesen Handlungsleitfäden versuchen wir unter anderem genau diese Konkretisierung der Grundrechte für den Bereich der Internetsuche und eine Abwägung zwischen den einzelnen Grundrechten.
Die Muster erklären, wie rechtliche Vorgaben zu verstehen sind und erläutern anhand von Beispielen, wie die Vorgaben umgesetzt werden können. Damit möchten wir all jenen eine Hilfestellung geben, die eine grundrechtsfördernde Internetsuche realisieren wollen, denen aber das juristische Fachwissen fehlt, um ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen. Profitieren werden von den Mustern also vor allem Entwicklerinnen und Entwickler, zum Beispiel in Startups oder in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Also alle Unternehmen, die im Bereich der Internetsuche aktiv sind oder aktiv sein wollen.
Wie bist du zum Thema Internetsuche gekommen?
Eigentlich durch Zufall. Viele der Probleme, die im Kontext der Internetsuche auftreten, waren mir zwar auf einer abstrakten Ebene bewusst, aber eine konkrete Lösung hatte ich nicht vor Augen. Die kam dann von außen in Form der Idee, einen offenen, europäischen Webindex aufzubauen. Zur Umsetzung dieser Idee möchten wir mit dem PriDI-Projekt einen wichtigen Mosaikstein beitragen.